Flipped Classroom – Individualisierung durch Digitalisierung

Die Methode Flipped Classroom

 „In der aktuellen Diskussion über die Entwicklung von Schule finden sich zwei zentrale Themen: zum einen die Frage, wie alle Schüler durch Maßnahmen der individuellen Förderung in der Entwicklung ihrer Möglichkeiten unterstützt werden können. Zum anderen die Frage, welchen Beitrag digitale Medien leisten können, um schulisches Lehren und Lernen zu verbessern. […] Beide Themen werden bislang vielfach isoliert betrachtet, und damit werden Chancen vertan: Denn […] individuelle Förderung kann wesentlich von digitalen Medien profitieren.“ (Heinen Richard, 2016, S. 3)

Das obige Zitat von Richard Heinen und Michael Kerres weist zum einen auf die wichtige Stellung der beiden Teilgebiete hin, stellt aber zudem auch die These auf, dass beide Bereiche nicht weiter getrennt voneinander betrachtet werden sollten. Viel mehr noch: es besagt, dass digital gestütztes Lernen individuelle Förderung positiv bedingen kann. Doch welche Möglichkeiten gibt es, beide Themen miteinander zu verknüpfen und wie sollen Lehrende dies im täglichen Unterricht an der Schule praktisch, insbesondere aber gewinnbringend umsetzen? Das Beispiel heute: Die Methode Flipped Classroom.

Begriffserklärung: Was ist Flipped Classroom?

Der Begriff Flipped Classroom (deutsch: umgedrehter Klassenraum) beschreibt dabei ein methodisches Vorgehen, bei dem die Lehrkraft zum Beispiel Erklärvideos zur Erarbeitung von Fachinhalten zur Verfügung stellt, die zu Hause angesehen werden. Im Unterricht steht dann eine selbstständige und vertiefende Übung zu den Lerninhalten an. In dem hier weiter erläuterten Szenario werden dazu Videos zum Unterrichtsthema von den Schülerinnen und Schülern als Hausaufgabe angesehen, um im Unterricht (nach einer kurzen Sicherungsphase) mit individualisierten Übungen zu beginnen, die das eigenverantwortliche Lernen fördern. Die Videolänge sollte entsprechend den Empfehlungen einer Studie von Guo, Kim und Rubin (2014) jeweils nicht viel länger als drei Minuten gewählt werden. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Hausaufgabe – neben dem Schauen der Videos – sollte es sein, eine Aufgabe passend zum Video von den Lernenden bearbeiten zulassen. Statt einem passiven Konsum wird so eine aktive, auf das Video bezogene, Auseinandersetzung möglich.

Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht 

Der Einstieg in die erste Unterrichtsstunde, nach der Erarbeitungsphase mit Hilfe des Videos aus der Hausaufgabe, kann beispielsweise anhand des Vergleichs der zum Video passenden Aufgabe geschehen. Zunächst sollte, wie von Weidmann (2017) empfohlen, über offene Fragen und Unklarheiten der Schülerinnen und Schüler gesprochen werden. Im Anschluss daran folgt eine Übungsphase: Diese kann so organisiert sein, dass ein Pool von Aufgaben mit jeweils angegebenem Schwierigkeitsgrad zur Verfügung gestellt wird (z.B. in Form einer Lerntheke oder von Stationenlernen). Es ist darüber hinaus denkbar, dass bearbeitete Aufgaben mit Hilfe im Klassenraum ausliegenden Lösungen von den Lernenden eigenständig überprüft werden. Zudem kann die Möglichkeit geboten werden, auch in den Unterrichtsstunden auf das Video aus der Hausaufgabe zurückzugreifen, sodass nach der anfänglichen Plenumsdiskussion, größtenteils differenzierend und systematisiert geübt werden kann. Es lohnt sich des Weiteren bestimmte Aufgaben aus dem Aufgabenpool im Anschluss an die Übungsphase im Plenum, z.B. mit Hilfe der Methode „aktives Plenum“, zu besprechen.

Vorteile kurz zusammengefasst: 

Klare Strukturierung: Da die Erklärung im Wesentlichen als Hausaufgabe stattfindet und die Lernenden im Unterricht, teils individuell, teils in anderen Settings an vorbereiteten Lernlandschaften arbeiten, lässt sich die Arbeit z.B. durch Wochen- oder Arbeitspläne einfach und klar auch über mehrere Unterrichtsstunden hinweg strukturieren.

Gewonnene Unterrichtszeit: Die Zeit für individuelle Fragen und Übungen aber auch für kooperative und kommunikative Methoden im Unterricht steigt spürbar an. 

Individuelles Fördern: Dadurch, dass das Video zu Hause mehrfach angesehen, angehalten oder zurückgespult werden kann, gestalten sich Hausaufgaben differenzierter als üblich. Möglich ist es, dass auch die gewonnene Zeit im Unterricht stärker als sonst für individuelle Aufgaben genutzt wird. 

Medienkompetenz:Für die digitale, datenschutzkonforme Bereitstellung von Videos bietet es sich an, dass auf einer Online-Plattform gearbeitet wird. Dies fördert die Medienkompetenz der Lernenden (insbesondere die Teilkompetenzen 1.2 und 1.3 des Medienkompetenzrahmen NRWs).

Eigenverantwortliches Lernen: Durch die gewonnene Unterrichtszeit, bleibt mehr Raum Unterricht so zu gestalten, dass das eigenverantwortliche Lernen gestärkt wird.

Nachteile kurz zusammengefasst

Technische Probleme: Die Methode geht insbesondere auch mit einer neuartigen Veränderung der häuslichen Arbeit einher. Daher empfiehlt es sich, sowohl die Eltern auf einem Elternabend, als auch die gesamte Lerngruppe im Vorfeld auf die neue Methode einzustimmen. Vielen technischen Fragen und Problemen kann so vorgebeugt werden. 

Erstellung der Lernvideos:Werden alle Videos von der Lehrkraft selbst in Eigenregie erstellt, ist dies sehrzeitintensiv. Es lohnt sich also auf Angebote von anderen Schulen und Universitäten zurückzugreifen. (siehe dazu auch den weiter unten folgenden Punkt „Interessante Links zum Weiterlesen“) 

Entdeckendes Lernen:Diese Art des Lernens ist durch die instruktionslastigen Videos nur schwer umzusetzen. 

Sonderlösungen:  Den Schülerinnen und Schülern im (offenen) Ganztag, die ihre Hausaufgaben in der Schule erledigen, muss ein internetfähiges Endgerät mit Ton zur Verfügung gestellt werden. Auch für Lernende ohne Hausaufgaben ist ein gesondertes Konzept erforderlich.

Fazit: Kann eine Individualisierung durch Digitalisierung gelingen?

Die in der Einleitung aufgeworfene Frage, ob Digitalisierung eine Chance für Individualisierung ist, muss sicherlich von jeder Lehrkraft in jeder Lerngruppe selbst beantwortet werden. 

Festzuhalten ist: Mit dieser neuartigen Methode können Hausaufgaben differenzierend organisiert werden. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass meiner Meinung nach ein einfaches, zur Verfügung gestelltes Video als Hausaufgabe alleine noch keinen Schüler und keine Schülerin motiviert oder gar in einem Fach zu besseren Leistungen führt. So muss die Lehrkraft zum einen die gewonnene Unterrichtszeit sinnvoll vorbereiten und diese zu einer echten Lernzeit, wie beispielsweise Hilbert Meyer sie beschreibt, machen (Meyer, 2004, S. 13). Während dieser echten Lernzeit ist die Lehrperson zum anderen dann ebenfalls besonders gefordert: Sie muss nun durch genaue Beobachtung diagnostizieren, um gegebenenfalls beratend nachsteuern zu können. Sie ist im Unterricht eher in der Rolle eines Coaches oder Lernbegleiters und sollte intensiv mit den Lernenden im Gespräch sein. Digitale Medien ersetzen die Lehrkraft also nicht, sie sind im Fall von Flipped Classroom eher eine Möglichkeit mehr echte Lernzeit im Unterricht zu generieren und fordern die Lehrperson in den Bereichen Diagnose und Beratung ganz besonders.

Hinweis: Die hier beschriebene Möglichkeit stellt nur ein beispielhaftes Szenario dar, nachdem mit der Methode Flipped Classroom gearbeitet werden kann. Es sind auch leicht abgewandelte Formen des Flipped Classroom denkbar. Diese werden teilweise in den folgenden Links vorgestellt.

Interessante Links zum Weiterlesen 

Sebastian Schmidt (Realschullehrer aus Bayern) stellt sein Konzept zum Flipped Classroom vor (Mathematik Sek I, aber auch Allgemeines, Tipps und Tricks). 

https://www.flippedmathe.de/mein-flipped-classroom/

Sebastian Stoll gibt praxistaugliche Hinweise insbesondere für das Fach Mathematik (Mittelstufe).

https://www.180grad-flip.de/

Frank Finkenberg (Universität Würzburg) hat seine Promotion sowie passende Videos zum Thema: „Flipped Classroom im Physikunterricht“ digital zur Verfügung gestellt (Sek II).

Promotion: https://www.logos-verlag.de/ebooks/OA/978-3-8325-4737-0.pdf 

Videos: https://www.youtube.com/channel/UCDR8jjd85JxrENhbz97FN5Q/videos 

Felix Fähnrich und Carsten Thein stellen Videos mit interaktiven Übungen vor (Mathematik Sek II). 

Praxisbeispiele, Erfahrungen und Handlungsempfehlungen aus einem wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekt drei Berliner Schulen sind unter folgendem Link veröffentlicht.  

http://flipyourclass.christian-spannagel.de/wp-content/uploads/2018/10/9783867938693_Flipped_PDF-Onlineversion.pdf

Prof. Dr. Christian Spannagel schreibt auf seinem Blog von Erfahrungen und Hinweisen zur Methode Flipped Classroom im universitären Umfeld. 

https://cspannagel.wordpress.com/

Literaturverzeichnis 

Heinen Richard, K. M. (2016). Individuelle Förderung mit digitalen Medien – Handlungsfelder für die systematische, lernförderliche Integration digitaler Medien in Schule und Unterricht. Von Bertelsmann Stiftung: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_iFoerderung_digitale_Medien_2015.pdf am 30.03.20 abgerufen

Guo, P., Kim, J., & Rubin, R. (2014). How video production affects student engagement: An empirical study of MOOC videos. In Proceedings of the first ACM conference on Learning@scale (S. 41-50).

Weidmann, D. (2017). Das ICM als Chance für die individuelle Förderung von Schülern? In J. Handke, & A. Sperl, Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz (S. 53-70). Oldenbourg: De Gruyter.

Meyer, H. (2004). Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen Scriptor.

Artikel verfasst von Lisa Lücking